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Interview: Wo steht die qualitative Marktforschung – und wohin bewegt sie sich?
LINK • 19. Mai 2021

Die qualitative Marktforschung befindet sich derzeit in einer spannenden Phase der Entwicklung. Vieles wird neu- oder umgedacht, unter anderem auch aufgrund der aktuellen Pandemie. Lisa Rabner-Catran und Daniel Stocker, seit Kurzem Teil von LINK Qualitative, machen im Interview eine Statusbesprechung der aktuellen Trends und Veränderungen in der Branche und erzählen von ihrem Werdegang.
Lisa, du warst zuvor als Senior Strategic Consultant bei «The Behavioural Architects» tätig. Daniel, du warst als Design Thinking Consultant bei «design impact.» selbstständig. Beide habt ihr euch somit bereits intensiv aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem menschlichen Verhalten beschäftigt. Was fasziniert euch daran?
Lisa Rabner-Catran: Mich fasziniert, wie Menschen denken und wie sie sich verhalten – und weshalb. Der klassischen Ökonomie zufolge sind wir ja rational und verhalten uns immer so, dass wir aus jeder Situation den maximalen Nutzen erzielen. Wenn ich also weiss, dass ich Bauchweh kriege, nachdem ich eine ganze Tafel Schokolade esse, dann esse ich auch keine ganze Tafel Schokolade. In der Wirklichkeit ist aber genau das Gegenteil der Fall… bei mir zumindest.
Oder, ein viel relevanteres Beispiel für unsere Gesellschaft: Das Sparen für die Zukunft. Ich bin vor Kurzem in die Schweiz gezogen und habe mich daher intensiv mit dem Thema «Säule 3a» auseinandergesetzt. Dazu wollte ich mich mit Freunden beraten und war ziemlich perplex, als ich gesehen habe, wie wenige meiner Freunde für die Pension sparen. Ich finde diese Differenz zwischen dem «idealen» und dem «echten» Verhalten extrem spannend.
Daniel Stocker: Beim Menschen fängt alles an, und dieser soll darum bei Lösungen konsequent ins Zentrum gestellt werden. Der Mensch ist ein komplexes Gebilde, kein System, keine Maschine, keine Excel-Tabelle, unberechenbar… Und genau das macht das Ganze enorm interessant. Um Bedürfnisse – oftmals latente – und das effektive Verhalten zu verstehen, gilt es, das konkrete Verhalten zu untersuchen und nicht bloss Meinungen oder die eigene Einschätzung abzufragen. Und genau der Versuch, dieses menschliche Verhalten, also menschliche Entscheidungs- und Handlungsmuster, welche zu weit über 80 % intuitiv ablaufen, zu verstehen und als zentrale Basis für die Entwicklung von neuen Lösungen zu verwenden, fasziniert mich.
Nun seid ihr bei der LINK Qualitative tätig. Auch wenn die Zeit erst kurz ist: Habt ihr bereits Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zu eurer vorherigen Position bemerkt?
L. R. C.: Soweit sehe ich keine riesigen Unterschiede. Was für mich ganz neu ist, ist in einem Unternehmen zu arbeiten, das sowohl qualitative als auch quantitative Forschungsansätze anbietet. Diese Kombination finde ich sehr spannend, und ich freue mich auch sehr darauf, an Qual-Quant-Kombinationsprojekten zu arbeiten. Dies gibt uns als Forschenden und Beratenden nämlich die Möglichkeit, unseren Kund/innen eine ganzheitliche Lösung zu bieten.
D. S.: Ob qualitative Forschung oder Design Thinking, beide Ansätze haben das Ziel, Licht ins Dunkle zu bringen, also das Wie, Wo und Warum zu beantworten – warum sich Konsument/innen in welchen Situationen wie verhalten. Daher lassen sich die Ansätze aus meiner Sicht gut kombinieren, und ich freue mich auf die Herausforderungen.
Lisa, du hast zuvor in England Marktforschung mit einem Fokus auf Verhaltensforschung betrieben. Wo siehst du als erfahrene Behavioural-Economics-Expertin Unterschiede zum Schweizer Markt, wo Gemeinsamkeiten?
L. R. C.: So viel Erfahrung habe ich noch nicht mit dem Schweizer Markt, deshalb kann ich diese Frage nur bedingt beantworten. Was mir bis jetzt aber aufgefallen ist: unsere Projekte bei der LINK sind lokal basiert – bei den meisten unseren Kund/innen handelt es sich also um Schweizer Unternehmen. In England haben wir auch viele internationale Projekte, beziehungsweise Multi-Länder-Projekte durchgeführt. Obwohl; viele Projekte hier sind in die deutsch- und französischsprachige Schweiz aufgeteilt. Dies könnte man auch beinahe «Multi-Länder-Projekte» nennen (schmunzelt).
Daniel, zuvor warst du als Consultant für Design-Thinking-Ansätze tätig. Wo siehst du als erfahrener Innovationsexperte die Anknüpfpunkte zur Marktforschung?
D. S.: Da gibt es sehr viele. Ob Design Thinking, Co-Creation oder qualitative Forschung – wir alle sitzen im gleichen Boot. Spannend wird es, wenn wir diese Ansätze verbinden, um beste Ergebnisse zu erzielen. Denn unser gemeinsames Ziel ist es, das menschliche Verhalten und die Bedürfnisse generell zu verstehen, um darauf bedürfnisgerecht neue oder verbesserte Produkte und Services für unsere Kund/innen zu entwickeln und erfolgreich im Markt zu lancieren.
Welchen einzigartigen Blickwinkel bringt ihr in die LINK Qualitative – mit welchen eurer Erfahrungen könnt ihr die Zukunft der qualitativen Marktforschung der LINK bereichern?
D. S.: Ich denke, qualitative Forschung muss in Zukunft mehr sein als die Generierung von Insights. Es wäre eine verpasste Chance. Weiterführende Beratungsleistungen lassen sich nahtlos und wunderbar auf der Basis von Insights anbieten. In meiner Arbeit als Consultant habe ich immer wieder gemerkt, dass die Beratungsleistung mit einem holistischen Ansatz – gestartet mit der Forschung, über die Entwicklung von neuen Lösungsansätzen bis hin zur Prototypisierung – der effektivste Weg für die bedürfnisgerechte Entwicklung ist.
Ich denke, hier liegt die grosse Chance, und spannend wird es, wenn wir beginnen, Ansätze wie qualitative Forschung, Design Thinking, Co-Creation und Weitere miteinander zu kombinieren. Wenn es uns gelingt, die Forschung mit Innovations- und Marketing-Prozessen noch besser zu verbinden, können wir den Wert der qualitativen Forschung erhöhen. Qualitative Forschung würde so nicht nur die Rolle des Insight-Gebers spielen, sondern auch eine zentrale Rolle in der Begleitung der Umsetzung einnehmen.
L. R. C.: Ich bin der Meinung, dass die qualitative Marktforschung sich von klassischen Fokusgruppen und Interviews wegbewegen sollte. Das macht die LINK, schon sehr gut.
Aus einer psychologischen Sicht macht es wenig Sinn, Personen zu ihrem Verhalten zu befragen, wenn sie in einem Raum sitzen und versuchen, sich daran zu erinnern und es akkurat zu schildern. Dies hat viele verschiedene Gründe: Zum Beispiel können wir uns oft gar nicht genau erinnern, wie, wann, wo und weshalb wir uns in spezifischen Situationen so verhalten, wie wir es tun. Vieles passiert auch unbewusst, wir können gewisse Dinge also gar nicht abrufen. Ein weiterer Grund ist, dass es sozial-bedingte Effekte gibt, die uns dazu bewegen, unser Verhalten anders darzustellen als es eigentlich ist, wenn wir direkt dazu befragt werden – vor allem in einer Gruppe.
Es ist deshalb essentiell, Verhalten dort zu beobachten und abzufragen, wo es geschieht. Wenn wir also das Einkaufverhalten von Personen verstehen wollen, dann sollten wir am besten unsere Studienteilnehmer/innen bei Ihrem Einkauf begleiten. Oder, falls es sich um eine Online-Studie handelt, sie darum beten, ihren Einkauf festzuhalten, während er tatsächlich stattfindet. Fokusgruppen und Interviews sind auf keinen Fall per se schlecht. Sie sollen jedoch in den richtigen Situationen verwendet werden.
Die qualitative Marktforschung hat sich durch COVID-19 nochmals stark digitalisiert. Wo seht ihr hier die grössten Veränderungen durch die Pandemie?
D. S.: Das Offensichtliche: In der Methodik, hin zu Online-Methoden. Die persönliche Forschung, wie zum Beispiel Fokus-Gruppen oder Workshops, ist zwar online möglich, aber nicht ganz so interaktiv und intuitiv. Verhaltungsforschung funktioniert online eigentlich ganz gut, indem Personen sich selbst dokumentieren, beispielsweise in einem Foto-Tagebuch, welches dann unter anderem als Basis für ein exploratives Gespräch dient.
L. R. C.: Wie Daniel schon erwähnt hat: Studien finden vermehrt online statt, vor allem in Online Communities oder Online Panels. Auch Interviews und Fokusgruppen finden digital via Video-Calls statt. Dies ist natürlich bequem, man kann als Teilnehmer/in unkompliziert von Zuhause teilnehmen. Andererseits basiert die qualitative Forschung sehr auf dem Zwischenmenschlichen. Vor allem Interviews und Fokusgruppen sind viel schwieriger online zu moderieren, und non-verbale Nuancen gehen dabei oft verloren.
Haben sich die Bedürfnisse der Kund/innen verändert?
D. S.: Grundsätzlich nein. Das zugrundeliegende Bedürfnis unserer Kund/innen, ihre Konsument/innen zu verstehen, hat sich per se nicht verändert. Die Bedürfnisse und das Verhalten der Konsument/innen hingegen haben sich natürlich gewandelt – unser Konsumverhalten, die ganze Customer Journey, hat sich schlagartig verändert. Diese abrupte Veränderung des Verhaltens führt automatisch zum Bedarf an mehr und anders gelagerten Informationen darüber, warum und – vor allem jetzt – in welcher neuen Umgebung sich die Konsument/innen wie verhalten. Kurz: Es gilt neu zu lernen und zu verstehen.
L. R. C.: Ich schliesse mich Daniel an. Im Grossen und Ganzen wollen die Kund/innen das Verhalten ihrer eigenen Kundschaft verstehen. Ich glaube, das ist nach wie vor das Hauptbedürfnis.
Sind all diese Veränderungen langfristig, oder wird der Shift nach einer allfälligen Normalisierung der Lage wieder rückgängig gemacht werden?
D. S.: Ich denke, gewisse Veränderungen oder Fokusse, wie zum Beispiel der Einsatz von Online-Methoden, welche – mit oder ohne Pandemie – wunderbar funktionieren, werden sicherlich bestehen bleiben und noch populärer werden. Gewisse Methoden, bei welchen es um einen mehrheitlich physischen Austausch geht, wie beispielsweise Co-Creation-Workshops, werden nach der Pandemie wieder zunehmen. Ein Online-Workshop muss immer noch sehr einfach gehalten werden, die Interaktion zwischen den Menschen ist online stärker eingeschränkt als offline.
Wichtig jedoch, Pandemie hin oder her: Die Fragestellung soll sich nicht auf den Einsatz möglicher Methoden (ob nun on- oder offline) konzentrieren, sondern vielmehr auf die Fragestellung an sich – und wie wir diese bestmöglich adressieren können. Kurz gesagt: Die Forschungsfrage definiert die Methoden, nicht anders herum.
L. R. C.: Ich denke und hoffe, dass auch in Zukunft Studien online durchgeführt werden – oder zumindest einzelne Phasen eines Projektes –, denn auch Online-Offline-Kombinationen können gut funktionieren. Zum Beispiel kann man in einer ersten Phase eine Online Community durchführen, um eine Forschungsfrage generell zu erforschen, und dann die besten beziehungsweise eloquentesten Teilnehmer/innen zusätzlich in einem physischen Interview befragen, um mehr in die Tiefe zu gehen.
Gleichzeitig hoffe ich aber auch, dass wir uns bald wieder face-to-face mit unseren Teilnehmer/innen unterhalten können. Diese Begegnungen sind für mich nämlich der spannendste Aspekt der qualitativen Forschung.
Abgesehen von dem Einfluss der Pandemie – was bewegt die Branche momentan? Welche Entwicklungen verfolgt ihr besonders aufmerksam?
D. S.: Es freut mich, dass die Entwicklung immer mehr zur Erforschung des tatsächlichen «Moment Of Truth», also zum tatsächlichen Geschehen hin, passiert – auch durch den Einbezug des jeweiligen Kontexts. Also hin zu einer möglichst realitätsnahen Forschung. Weiter wird uns die digitale Transformation weiter begleiten, auch bei unseren Kund/innen. Einerseits werden durch diese Entwicklung stetig neue Services und Produkte lanciert, anderseits müssen dadurch neue Kompetenzen und Fähigkeiten – sei es bei Konsument/innen selbst oder bei Mitarbeitenden in Unternehmen – angeeignet werden. Unser Verhalten wird sich also auch in Zukunft laufend verändern, und diese Veränderungen bestimmen folglich auch die Forschung.
Das Spannende an unserem Beruf ist, stets flexibel und offen auf Veränderungen einzugehen, um diese bestmöglich zu verstehen. Denn egal, welche genauen Veränderungen oder Trends in welchen Märkten auf uns zukommen – wir müssen stets explorativ, flexibel, offen und neugierig unterwegs sein. Das Neue und Unbekannte ist interessanter, als Bekanntes abzufragen.
L. R. C.: Die COVID-19-Pandemie hat unsere Leben verändert – wahrscheinlich auch längerfristig. Das «New Normal» bringt natürlich auf Veränderungen in unseren Meinungen und in unserem Verhalten mit sich. Dies bewegt unsere Branche insofern, als dass dies ein riesiges Potenzial für uns als Markforschende darstellt, denn es sind neue Verhaltensmuster entstanden, die es nun zu erforschen und zu verstehen gilt. Und genau dabei wollen wir unseren Kund/innen ja helfen.
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