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Neutral auf der Seite des Völkerrechts: Ungebrochene Unterstützung für die Ukraine in der Schweizer Bevölkerung
LINK • 23. Juni 2022

Vor vier Monaten marschierte Russland in die Ukraine ein. Die Folgen des Krieges zeigen sich in Form der steigenden Inflation, der grossen Flüchtlingswelle und der andauernden militärischen Eskalationsgefahr deutlich. Wie beurteilt die Schweizer Bevölkerung den Ukraine-Krieg, die Reaktion des Bundesrates darauf und die Neutralität ganz generell? Unsere aktuelle Erhebung zeigt: In der Schweiz hat das Bedrohungsempfinden im Vergleich zum Kriegsausbruch leicht abgenommen, die Situation wird aber noch immer als bedrohlich eingeschätzt. Die Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen, ist nach wie vor ungemindert. Auch das Konzept der «kooperativen Neutralität» findet in der Bevölkerung weiterhin grosse Unterstützung, wie unsere Analysen zeigen.
In der Schweiz ist die Besorgnis über eine mögliche weitere Eskalation des Ukraine-Krieges hoch. Nach vier Monaten Kriegsdauer äussert eine grosse Mehrheit der Befragten die Sorge, dass Russland Chemiewaffen (81 %) oder Atomwaffen (73 %) einsetzen könnte. Etwa zwei von drei Befragten (63 %) fürchten sich, dass der Konflikt zu einem dritten Weltkrieg führen könnte, und fast jede zweite Person (48 %) zeigt sich besorgt vor der Ausweitung des Konfliktes zu einem grösseren Krieg, von dem auch die Schweiz betroffen sein könnte (vgl. Abbildung 1).
Auffällig ist dabei, dass die Besorgnis trotz dieser hohen Zahlen im Vergleich zu Mitte März 2022 teilweise deutlich zurückgegangen ist. Dies lässt sich jedoch nicht auf eine Abnahme im wahrgenommenen Eskalationsrisiko zurückführen (vgl. Abbildung 2). Im Gegenteil: die Wahrscheinlichkeiten, mit welcher die verschiedenen Szenarien eingeschätzt werden, sind erstaunlich stabil und bewegen sich zwischen 22 % (Ausweitung des Krieges auch auf die Schweiz) und 63 % (Einsatz von Chemiewaffen). Dies lässt auf einen gewissen Gewöhnungseffekt schliessen. Konfrontiert mit täglichen Schreckensbildern vom Krieg ist den Befragten die Bedrohung zwar weiterhin bewusst, sie macht ihnen aber weniger Angst als noch vor 3 Monaten.
Gleichzeitig ist den Befragten in den letzten Wochen bewusster geworden, dass der Ukraine-Krieg auch Auswirkungen in der Schweiz hat (vgl. Abbildung 3). Im Vergleich zu unserer ersten Befragung im März ist ein deutlicher Trend hin zu stärkeren negativen finanziellen Auswirkungen auf die Befragten persönlich zu erkennen (+14 Prozentpunkte). Während im März noch 58 % der Befragten angaben, dass sich der Krieg negativ auf die eigenen Finanzen auswirken könne, sind es im Juni bereits 72 % der Befragten. Dies überrascht angesichts der verschlechterten Wirtschaftsdaten nicht: So wurden die Konjunkturprognosen zuletzt weiter moderat gesenkt und die Teuerungsrate liegt mit 2.9 % auf dem aktuell höchsten Stand seit Jahren. Die wachsende Sorge vor einem wirtschaftlichen Abschwung zeigt sich entsprechend auch in unseren Befragungsergebnissen eindrücklich.
Trotz finanzieller Sorgen weiterhin hohe Solidarität mit der Ukraine
Wie stark sind die Schweizerinnen und Schweizer angesichts der Bedrohungslage und der wirtschaftlichen Konsequenzen des Krieges bereit, politische Massnahmen gegen Russland zu unterstützen? In dieser Frage wird stark zwischen den verschiedenen Arten von Massnahmen unterschieden (vgl. Abbildung 4). Militärische Massnahmen wie die Entsendung eigener Truppen (W2 = 7 %), Luft- bzw. Cyberangriffe (W2 = 16 % bzw. knapp 33 %) oder auch Waffenlieferungen (W2 = 36 %) werden sehr kritisch beurteilt. Dagegen finden wirtschaftliche Massnahmen weiterhin eine hohe Unterstützung. Zusätzliche Wirtschaftssanktionen gegen Russland (72 %), Importstopps von russischem Öl (72%) und Gas (70 %), sowie die Beschlagnahmung von russischen Oligarchenvermögen (68 %) werden jeweils von einer grossen Mehrheit unterstützt (vgl. Abbildung 4).
Diese Ergebnisse sind aus zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens ist eine Mehrheit weiterhin bereit, die Wirtschaftssanktionen mitzutragen und sogar weiterführende Massnahmen zu unterstützen, obwohl dies zu persönlichen finanziellen Einbussen führen könnte (vgl. Abbildung 5). Eine Mehrheit der Befragten würde einer Verschärfung der Sanktionen zustimmen, auch wenn dies Öl- und Gasknappheit (56 %), einen signifikanten Anstieg der Energiepreise (54 %) oder der allgemeinen Lebenshaltungskosten (52 %) zur Folge hätte. Zweitens umfasst die Bereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer den Willen, mit der Beschlagnahmung russischen Privatvermögens sogar sehr drastische Mittel zur Unterstützung der Ukraine mitzutragen, welche weit über das aktuelle Einfrieren solcher Vermögen hinausgehen (vgl. Abbildung 4).
«Kooperative» oder «integrale» Neutralität?
Interessant sind diese Ergebnisse auch, weil sie ein Schlaglicht auf die laufende Diskussion über die Ausgestaltung der Neutralität werfen. Am WEF 2022 stellte Bundesrat Cassis das Konzept der «kooperativen Neutralität» vor, welches ein aktives Eingreifen zur Sicherung zentraler Werte wie den Menschenrechten oder grundlegenden Prinzipien wie dem Selbstbestimmungsrecht von Staaten propagiert, ohne durch ein militärisches Eingreifen die Verpflichtungen eines neutralen Staates zu verletzen. Dagegen ist eine Gruppe um Christoph Blocher dabei, eine Initiative zu lancieren, welche eine Definition der «integralen Neutralität» in der Verfassung verankern soll, bei der die Schweiz im Kriegsfall weder militärisch noch mit Sanktionen Partei ergreifen dürfte (siehe bspw. NZZ vom 12.03.22).
Die in Abbildung 6 dargestellten Ergebnisse legen nahe, dass das Konzept der «kooperativen Neutralität» in der Schweiz auf grosse Unterstützung stösst. Die Befragten wollen kein militärisches Eingreifen jeglicher Art, dafür wirtschaftliche Massnahmen und Sanktionen, die sich gegen das völkerrechtwidrige Verhalten Russlands richten. Fast zwei Drittel der Befragten (64 %) stimmen in der Juni-Befragung auch der Aussage zu, dass sich die Schweiz klar zur Ukraine bekennen und die Sanktionen der EU gegen Russland vollumfänglich umsetzen sollte. Neutralität und wirtschaftliche Sanktionen stehen für die Mehrheit der Befragten also nicht im Widerspruch.
Gleichzeitig wird die Neutralität an sich von der Bevölkerung weiterhin sehr geschätzt. 59 % geben an, dass sich die Schweiz gegenüber Russland und der Ukraine neutral verhalten sollte und eine grosse Mehrheit von 78 % findet, dass die Schweiz in diesem Konflikt eine Vermittlerrolle einnehmen sollte. Auch eine NATO-Mitgliedschaft lehnt im Juni 2022 die Hälfte der Befragten ab. Diese Ablehnung ist zwar seit März gesunken, ist jedoch noch immer mehr als doppelt so hoch wie die Zustimmung zu einem NATO-Beitritt der Schweiz (23 %) (vgl. Abbildung 7). Eine engere Kooperation der Schweiz mit der NATO findet dagegen mit 55 % bei den Befragten breite Zustimmung. Zusammenfassend zeigt sich ein Bild, bei dem die Öffentlichkeit die Neutralität der Schweiz weiterhin schätzt, jedoch eine gewisse Kooperation mit Staaten, welche die Grundwerte der Schweiz teilen und sich für die regelbasierte und multilateralisierte Weltordnung einsetzen befürwortet.
Interessant sind im Kontext der Diskussion über die Definition der Neutralität auch die Unterschiede zwischen den politischen Lagern. Während es bezüglich der Unterstützung von Sanktionen und der Frage nach einer Vermittlerrolle für die Schweiz eine überparteiliche Mehrheit gibt, hat sich der politische Graben in Bezug auf grundsätzliche Fragen der Neutralität in der letzten drei Monaten vergrössert (vgl. Abbildung 5). Während Befragte des rechten Spektrums und aus der Mitte beispielsweise mehrheitlich die Neutralität gegenüber Russland und Ukraine bewahren wollen, fand dies keine Mehrheit unter den politisch eher links Orientierten. Die Gruppe der Befürworter der Neutralität nahm dabei seit März rechts und in der Mitte zu. Zudem findet sich rechts nun knapp keine Mehrheit mehr, die Sanktionen der EU vollumfänglich zu unterstützten. Bezüglich der NATO zeigt sich ein ähnliches Bild. Personen, die sich eher dem rechten politischen Spektrum zuordnen, lehnen einen NATO-Beitritt eher ab als Personen des linken Spektrums. In der Mitte hat sich seit März die stärkste Veränderung gezeigt: Mit +10 Prozentpunkten ist der Anteil derjenigen, die einen Beitritt zur NATO eher befürworten (Welle 1 = 13 %; Welle 2 = 23 %) signifikant angestiegen (vgl. Abbildung 7). Unter den politisch eher rechts Orientierten befürworten im Juni 19 % einen Beitritt zur NATO.
Grosse Mehrheit befürwortet Politik des Bundesrates
Der Umgang mit dem Ukraine-Krieg ist insbesondere vor dem Hintergrund der Diskussion über die Interpretation der Neutralität auch für den Bundesrat eine Gratwanderung. Zwar ist mit 58 % der Befragten weiterhin eine Mehrheit mit der Krisenbewältigung des Bundesrats zufrieden, allerdings ist dieser Anteil im Vergleich zum März 13 Prozentpunkte gefallen. Dies resultiert aber nicht unbedingt in einer höheren Unzufriedenheit (+7 Prozentpunkte); mit 17 % sind nun auch deutlich mehr Befragte als im März unsicher, wie sie die Arbeit des Bundesrats einschätzen sollen (+6 Prozentpunkte: Weiss nicht). Auch dies spiegelt die Schwierigkeiten der Schweiz wider, den goldenen Mittelweg in diesem Konflikt und der geopolitisch zunehmend schwierigen Weltlage zu finden.
Insgesamt zeigt sich in den Ergebnissen, dass die aktuelle Ukraine-Politik des Bundesrates von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung befürwortet wird (vgl. Abbildung 8). Wirtschaftliche Massnahmen gegen Russland erhalten Zuspruch, militärische Unterstützung jeglicher Art dagegen werden abgelehnt. Die Daten zeigen aber auch, dass die Meinungen dynamisch sind und sich über die Zeit hinweg verändern. Die anstehenden Debatten über die Neutralität versprechen also auch in Bezug auf die öffentliche Meinung intensiv und spannend zu werden.
Das Studiendossier mit allen Informationen kann untenstehend heruntergeladen werden.
Anmerkung: Eine gekürzte Version des Artikels erscheint zusätzlich am 24.06.22 auf der politik- und sozialwissenschaftlichen Plattform DeFacto und ist eine Zusammenarbeit von Prof. Dr. Stefanie Walter und Dr. Sabine Frenzel. Kontaktieren Sie uns bei Rückfragen oder Interesse an weiteren Informationen gerne.

Über die Autorinnen
Prof. Dr. Stefanie Walter ist ordentliche Professorin für Internationale Beziehungen und Politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich.
Dr. Sabine Frenzel ist seit 2019 Geschäftsbereichsleiterin der LINK Sozialforschung und Mitglied der Geschäftsleitung.
Die Studie im Überblick
Methode: Online-Befragung über das LINK Panel in der Schweiz
Grundgesamtheiten: 1’206 (Welle 1) bzw. 1’216 (Welle 2) wohnhafte Personen in der Schweiz im Alter von 15-79 Jahren, die repräsentativ für die dortige Wohnbevölkerung sind, mindestens einmal pro Woche zu privaten Zwecken das Internet nutzen und den Fragebogen in den Landessprachen ausfüllen können.
Studienzeitraum Welle 1: 17. bis 21. März 2022
Studienzeitraum Welle 2: 03. bis 10. Juni 2022
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