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Ukraine-Konflikt: Kooperative Neutralität – die Haltung der Schweiz in Zeiten des Kriegs in Europa
LINK • 1. Juni 2022

Bereits im März haben wir über die Wahrnehmung des Ukraine-Konflikts in der Schweiz berichtet. Die Ergebnisse unserer damaligen Umfrage haben gezeigt, dass einer grossen Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer (88 %) dieser Konflikt Sorgen bereitet (LINK, 28. März 2022, «Ukraine, Sanktionen und weitere Massnahmen: So denkt die Schweiz»). Die Daten haben zudem aufgezeigt, wie die Neutralitätspolitik der Schweiz vom In- und Ausland bewertet wird. Einige ausgewählte, bisher unveröffentlichte Ergebnisse sind nun in diesem Artikel zu finden.
Neutralität trotz Sanktionen kein Widerspruch, sondern Selbstverständnis für Verteidigung demokratischer Werte
In Anbetracht des russischen Angriffskriegs hat die Schweiz bereits die meisten Sanktionen der EU umgesetzt und den Status der Neutralität damit neu definiert. Doch wie weit kann und soll der Begriff Neutralität zukünftig gedehnt werden? Spätestens mit dem Lieferverbot von Schweizer Panzer-Munition durch Deutschland an die Ukraine werden Stimmen unterschiedlicher politischer Lager insbesondere seitens Mitte, FDP und Grünliberale laut, denen zufolge sogar Waffenlieferungen denkbar sein könnten, um Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Mit der Unterstützung der EU-Sanktionen schon nach wenigen Kriegswochen handelte der Bundesrat laut unserer Daten im Sinne der Bevölkerung, die eine «reine» Neutralitätspolitik mehrheitlich nicht unterstützen würde.
Sowohl in Deutschland mit 26 % als auch in Frankreich mit 21 % gibt es nur wenig Akzeptanz für eine neutrale Haltung der Schweiz in Bezug auf die Umsetzung von Sanktionen gegen Russland. Diese interessante Outside-In-View konnte mittels Datenerhebung via YouGov-Panel in Deutschland und Frankreich gewonnen werden. Die Sicht der Schweizerinnen und Schweizer auf dasselbe Thema wurde im repräsentativen LINK Panel untersucht: Eine Mehrheit von 56 % der Schweizerinnen und Schweizer spricht sich dafür aus, sich gegenüber Russland und der Ukraine neutral zu verhalten. Diese Einschätzung liegt klar im Einklang mit dem historischen Neutralitätsstatus, der laut der durch LINK erhobenen Daten in der Westschweiz signifikant fester verankert ist als in der Deutschschweiz.
Gleichwohl unterstützt mit 65 % eine klare Mehrheit der Befragten in der Schweiz ein vollumfängliches Bekenntnis zu den Sanktionen der EU und widerspricht damit dem zuvor mehrheitlich befürworteten Neutralitätsgebot. Damit steht die Bevölkerung hinter der Entscheidung des Bundesrates – die Ergebnisse demonstrieren aber auch eine ambivalente Beziehung der Schweizer Bevölkerung zum Schweizerischen Neutralitätsstatus und zeigen, wie schwierig es ist, die Neutralitätspolitik im Spannungsfeld realpolitischer Erfordernisse in Krisenzeiten im Sinne der Gesamtbevölkerung auszulegen. Dass Sanktionen nicht im Widerspruch mit der neutralen Haltung der Schweiz stehen müssen, findet auch ein grosser Bevölkerungsteil der direkten Nachbarn Deutschland (51 %) und Frankreich (41 %). Bundespräsident Ignazio Cassis, der bei seiner Eröffnungsrede am WEF von einer «kooperativen Neutralität» sprach, liegt demzufolge voll im Trend.
Vertrauen in die politische Führung in der Schweiz deutlich höher als in Deutschland und Frankreich
Nicht verwunderlich ist vor diesem Hintergrund, dass mit 59 % die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer der eigenen politischen Führung vertraut, die richtigen Entscheidungen in Bezug auf den Krieg in der Ukraine zu treffen. In Deutschland ist der mehrheitliche Rückhalt für Kanzler Scholz mit 51 % nur hauchdünn. Und mit 46 % überwiegt zwar der Anteil an Franzosen, die Präsident Macron vertrauen, aber der Anteil derer, die es nicht tun, ist mit 42 % höher als in allen anderen Ländern.
Das grosse Vertrauen ist dabei sicherlich auch ausschlaggebend dafür, dass sich die Schweizerinnen und Schweizer wenige Sorgen um die aktuelle Situation in der Ukraine machen – nur 24 % sind sehr besorgt (Deutschland 63 %, Frankreich 31 %). Der Krieg scheint noch weiter weg von der Schweiz als von Deutschland und Frankreich.
Doch die Diskussion steht noch am Anfang, auch wenn mit aktuell über 50’000 ukrainischen Flüchtlingen (Stand 20. Mai 2022, Staatssekretariat für Migration) der Krieg mehr und mehr auch in der Schweiz ankommt. Auch beim Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos bestimmt der russische Angriffskrieg die Diskussion und es zeigt sich, dass aussergewöhnliche Situationen auch aussergewöhnliche Massnahmen erfordern – denn wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass das WEF ohne Russland stattfindet, dass De-Globalisierung tatsächlich nicht nur vor dem WEF diskutiert wird oder die EU wiederholt innert Tagen gemeinsam Sanktionen gegen Russland durchsetzt?
Die Diskussion über die zukünftige Schweizer Neutralitätspolitik wird daher sicher noch andauern. Schlussendlich gibt es für eine klare bzw. «reine» Auslegung einer Schweizerischen Neutralitätspolitik zumindest aus historischer Sicht keine Grundlage, wie ein Blick in die Literatur zur Geschichte der Schweizerischen Neutralität beispielsweise von Edgar Bonjour, Daniel Bourgeois und Klaus Urner bis hin zu Georg Kreis zeigt.
Die Studie im Überblick
Methode: Online-Befragung über das LINK Panel in der Schweiz bzw. YouGov in Deutschland und Frankreich
Grundgesamtheiten: 1’206 in der Schweiz, 1’841 in Deutschland bzw. 1’739 in Frankreich wohnhafte Personen im Alter von 15-79 Jahren (Deutschland und Frankreich Personen ab 18 Jahren), die repräsentativ für die dortige Bevölkerung sind, mindestens einmal pro Woche zu privaten Zwecken das Internet nutzen und den Fragebogen in den Landessprachen ausfüllen können.
Studienzeitraum Schweiz: 17. bis 21. März 2022
Studienzeitraum Deutschland: 09. bis 13. März 2022
Studienzeitraum Frankreich: 16. bis 21. März 2022
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